Nachruf Tilmann Breuer

Am 7. April 2022 verstarb Tilmann Breuer im einundneunzigsten Lebensjahr. Damit verlor die Denkmalpflege nicht nur in Bayern, sondern in ganz Deutschland den bedeutendsten Brückenbauer zwischen Praxis und Theorie am Ende des 20. Jahrhunderts. Zeitlebens versuchte er, seine Praktiken als Inventarisator fest mit der von ihm selbst weiterentwickelten Theorie des Denkmals zu verbinden, auch wenn er sich im Klaren darüber war, dass beide Pole im Alltag keineswegs leicht zu vereinen sind.

Er wurde am 13. Oktober 1931 in Coburg geboren. Beide Eltern waren Lehrer, der Vater an der Volksschule in Einberg (heute Stadt Rödental), wo die Familie im Schulhaus wohnte. Deshalb musste der vielseitig begabte Sohn bei seinem eigenen Vater in die Schule gehen, der aus Angst vor dem Vorwurf der Bevorzugung ins Gegenteil verfiel. Das Gymnasium besuchte er am traditionsreichen Casimirianum in Coburg, das er 1950 als Bester seines Jahrgangs abschloss. Auch wenn er den weitaus größten Teil seines Lebens mit Studium, Berufsausübung und ausgefülltem Pensionärsdasein woanders und überwiegend in der Landeshauptstadt München verbrachte, kam er in Gesprächen, aber auch in seinen wissenschaftlichen Publikationen doch immer wieder auf seine Herkunft in diesem so anderen, fränkisch-thüringisch-evangelisch geprägten jungen Landesteil zurück, der ihn zweifelsohne lebenslang prägte.

Nach dem Abitur studierte Breuer Kunstgeschichte mit den Nebenfächern Klassische Archäologie, Evangelische Theologie und Philosophie, zunächst in Marburg an der Lahn, dann in Tübingen und schließlich in München, wo er zur Fassade der Kathedrale von Angoulême promovierte.

Seinem Lehrer und Doktorvater Hans Sedlmayr (1896–1984) und dessen „Strukturanalyse“ blieb er in seiner fachlichen Grundhaltung immer verbunden. Nach der Promotion kam er 1956 über Werkverträge zum Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege. Es war dies die Zeit, in der die Amtsleitung und die Inventarisatoren feststellen mussten, dass die altehrwürdige, seit Inventarreihe der „Kunstdenkmäler von Bayern“ übliche Vorgehensweise den dynamischen Entwicklungen der Zeit nicht mehr gewachsen war. Mutig setzte man den Rotstift an und entwickelte das Kurzinventar, das ohne Fotos und Quellenapparat rein auf knappe Texte setzte. Tilmann Breuer konnte von 1958 bis 1964 sieben (Stadt Augsburg, Stadt und Landkreis Memmingen, Stadt und Landkreis Kaufbeuren, Stadt und Landkreis Forchheim, Landkreis Münchberg, Landkreis Lichtenfels und Landkreis Kronach) solcher Kurzinventare erarbeiten. Doch obwohl er damit erfolgreich war, hat diese Zeit in ihm doch die Auffassung verfestigt, dass Kurzinventare und erst recht die ab 1973 mit dem Denkmalschutzgesetz erforderlich werdenden Denkmallisten kein wirkliches Instrument der von ihm damals geforderten und später geprägten „Denkmalkunde“ sein konnten; er setzte stattdessen weiter auf das sogenannte „Großinventar“, einen Begriff, den er wegen seiner Nähe zu Eigentumsansprüchen nicht mochte. Er wollte lieber von einer fundamentalen „Denkmalkunde“ reden. Er war sich allerdings im Klaren, dass seine „fundamentale, topographische Denkmalkunde“ nicht mehr in der Fläche umsetzbar sein werde, weshalb er sich auf einen der dichtesten und wertvollsten Denkmalbestände Bayerns konzentrierte: den der Altstadt Bamberg. Dies sollte sein Arbeitsleben über 40 Jahre lang bestimmen, weit über das Pensionsalter hinaus. Als er 1972 zum Leiter der Abteilung Inventarisation berufen wurde, musste er sich in erster Linie um die Organisation der Erarbeitung einer bayerischen Denkmalliste kümmern. Dabei fand er Befriedigung in der Aufgabe, eine größere Zahl junger Nachwuchskräfte in die neue Fragestellung einzuführen und sie mit den reichen Denkmalwerten Bayerns in Auseinandersetzung mit den Menschen vor Ort vertraut zu machen. Diesen pädagogischen Impetus sowie sein Interesse an der Verklammerung von Praxis und Theorie konnte er auch als Lehrbeauftragter an der Technischen Universität München ausleben, die ihn schließlich 1985 zum Honorarprofessor ernannte.

Als nun die Denkmallisten in Bayern unter seiner Leitung bis 1986 fertiggestellt und bald auch im Druck erschienen waren, konnte sich Breuer wieder verstärkt der Denkmalkunde Bambergs widmen. In der Konsequenz konnte er nun 1990 den Doppelband „Innere Inselstadt“ als ersten Band der Reihe der „Kunstdenkmäler in Bayern“ seit mehr als 20 Jahren fertigstellen; trotz des Eintritts in den Ruhestand 1996, führte er diese Arbeit als wesentlichen Teil seines Lebenswerkes weiter, was der Doppelband zur „Bürgerlichen Bergstadt“ (1997) und die beiden Bände Stephansberg und Kaulberg der „Immunitäten der Bergstadt“ (2003) dokumentieren. Diese intensive Auseinandersetzung mit dem Stadtdenkmal Bamberg hatte wiederum zwei Konsequenzen: Sie brachte Breuer zu grundsätzlichen theoretischen Überlegungen zum Ensemblebegriff und hatte zur praktischen Folge, dass es aufgrund seiner Vorarbeiten ein geradezu Leichtes war, dieses Stadtdenkmal 1993 in die Liste des UNESCO-Welterbes einzuschreiben. Dies veranlasste die Stadt Bamberg dazu, ihn 1999 mit ihrer Bürgermedaille auszuzeichnen und ihn in der Folge als „Vater des Welterbes“ zu titulieren.

Es war aber nicht seine Arbeit als praktischer Inventarisator, sondern vor allem sein theoretisches Bemühen um den Denkmalbegriff, das seine Stellung innerhalb der deutschsprachigen Denkmalwelt so bedeutend werden ließ. Ausgehend vom Denkmal an seinem Ort, entwickelte er schrittweise ein Konzept des raumbezogenen Denkmals auf verschiedenen Ebenen des Maßstabs und der räumlichen Verdichtung. Die Intension dabei war, zu zeigen, was „topographische Denkmalzusammenhänge zum Verständnis von Denkmalwesen beitragen“. Dabei wurde er sich bewusst, dass bei einer entsprechenden Dichte von Denkmälern, die ihrerseits „menschliche Leistung von Bedeutung“ bezeugten, noch eine weitere Hierarchiestufe des Denkmalbegriffs erreicht sein werde: die der „Denkmallandschaft“. Darunter verstand er eine als eine Einheit erfahrbare Struktur, bezogen auf einen möglicherweise sogar immateriellen Kern, die ihm als größte beschreibbare Denkmaleinheit galt.

In „seiner“ Denkmalkunde sah er die Begriffe „erkunden“ und „verkündigen“ vereint. Denkmalkunde verwirklicht sich also nur in der Vermittlung ihrer Ergebnisse. Mit diesem Ansatz nahm er vorweg, was heute unter dem Stichwort „Partizipation“ in zahlreichen Feldern der Denkmalpflege gefordert wird.

Tilmann Breuer hatte sich zur Aufgabe gemacht, immer wieder über den Denkmalbegriff, vor allem in seinen strukturellen und topologischen Dimensionen, offen zu reflektieren und seine Erkenntnisse weiterzugeben. Dieses sein persönliches Erbe sollte uns Ansporn sein, in Zeiten überwiegend pragmatisch bestimmter Herangehensweisen immer wieder innezuhalten und seine Gedanken neu zu bedenken.

Thomas Gunzelmann im Namen des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege